Berliner Kongress - Vorbereitung des I. Weltkrieges. Der Berliner Kongress war so etwas wie ein G8-Gipfel, Deutschland, Österreich-Ungarn, Frankreich, Großbritannien, Italien, Russland und das Osmanische Reich. Es wurde von den restaurativen Kräften über die Menschen hinweg, die schon 1849 niedergeknüppelt wurden, die Neuverteilung der Macht im Südosten Europas, insbesondere auf dem Balkan geregelt. Man gewährte nicht den vom angeblichen "türkischen Joch befreiten Völkern" die Freiheit, sondern unterstellte sie ungefragt dem eigenen Macht- und Kapitalinteresse oder den jeweiligen monarchischen Interessen. In gewissem Maße wirkt der den Berliner Kongreß beendende "Berliner Frieden" bis in die heutigen Tage im Südosten Europas sehr unfriedlich nach. Formales Ergebnis der Konferenz der fünf europäischen Großmächte mit der Türkei war der in der Sitzung vom 13. Juli geschlossene "Berliner Frieden", mit dem die Auseinandersetzungen nach dem russisch-türkischen Krieg von 1877/78 "beigelegt" wurden. Der I. Weltkrieg war eine - vorläufig nur aufgeschobene - Folge.
Vorausgegangen war dem Kongress erst ein serbisch-türkischer Konflikt, der 1876 mit einer vernichtenden Niederlage der aufständischen Serben gegen den vermeintlich "kranken Mann vom Bosporus" endete. Den Serben und Montenegrinern war es nicht gelungen, die türkische Vorherrschaft abzuschütteln. Russland fürchtet um sein Prestige als orthodoxe Schutzmacht Serbiens und um seine panslawistischen Ziele und greift daher im April 1877 die Türkei an. Der Krieg endet Anfang 1878 mit einem Sieg Russlands und dem Diktatfrieden von San Stefano.
Dagegen hatten aber England und Österreich umgehend protestiert. Allerdings nicht gegen das "Diktat" Russlands, nur weil sie auch an dem "Kuchen" der da verteilt wurde, teilhaben wollten. Russland liquidiert in dem Frieden von San Stefano den europäischen Brückenkopf der Osmanen und schiebt ein von Russland abhängiges Groß-Bulgarien als Satellitenstaat vom Schwarzen Meer bis zur Ägäis quer über den Balkan. Das europäische Gleichgewicht gerät damit aus den Fugen, entscheidender aber: Die Friedensbedingungen sind ein Schlag ins Gesicht der britischen Interessen, die seit dem Krimkrieg als Protektor der (islamischen) Osmanen gegen das (christliche) Russland aufgetreten sind. Zudem will die britische Seemacht unter allen Umständen den Zugang Russlands durch die Dardanellen zum Mittelmeerraum verhindern, zum eigenen maritimen Einflussgebiet also. Der russische Anspruch über den gesamten Balkan ist zudem eine Herausforderung an Österreich, das Bosnien kolonialisieren, imperial einverleiben will.
Der britische Regierung schickte umgehend 5000 Gurkhas, indische Elitetruppen, nach Malta. Fregatten liefen ins Marmarameer ein. Russland musste um des Friedens willen akzeptieren, dass der Preis des Friedens von San Stefano ein Krieg mit England wäre und Österreich freut sich nicht über die "Befreiung der Balkanvölker" von den Osmanen sondern nimmt schon Kriegskredite auf um die vom "osmanischen Joch Befreiten" unter ihre Knute zu bringen und versetzt die Grenzgarnisonen sofort in Alarmbereitschaft.
Das christliche russische Zarenhaus verzichtete deshalb im "Berliner Frieden" auf ein Protektorat Groß-Bulgarien, das nun unter dem Druck der christlichen Mächte England und Österreich-Ungarn in ein Fürstentum unter türkischer Oberhoheit und in eine türkische Provinz Ostrumelien geteilt wurde. Russland erhielt von Rumänien als Ausgleich Teile Bessarabiens. Makedonien wurde wieder dem Osmanischen Reich zugesprochen. Rumänien, das seinerseits den größten Teil der Dobrudscha gewann, wurde mit Serbien und Montenegro für unabhängig erklärt. Österreich-Ungarn ließ sich das Mandat zur Besetzung von Bosnien und der Herzegowina geben. Großbritannien nahm sich Zypern.
Migrationsgeschichte I.Teil. Uns interessiert beim Berliner Kongress ein türkischer Vertreter namens Mehmed Ali Pascha besonders. Denn er stammte ursprünglich aus Deutschland und hieß dort "Karl Detroit". Er war hugenottischer Abstammung. Das bedeutet, dass seine Vorfahren aus Frankreich stammten und sein urspünglicher Familienname "Detroit" verrät das ja auch noch. Der Ursprung des Wortes "Hugenotten" ist vermutlich eine Anspielung auf das französische Wort aignos (Eidgenossen) und ist seit etwa 1560 die gebräuchliche Bezeichnung für die französischen Protestanten. 1685 flüchteten 44.000 bis 50.000 Hugenotten nach Deutschland.
Ausgerechnet in dem wirtschaftlich und kulturell fortschrittlichen europäischen Land Frankreich fand der erste Pogrom der Neuzeit, die Pariser Bluthochzeit der Bartholomäusnacht statt. Im Morgengrauen des 24. August 1572 läutete die Sturmglocke der Pariser Kirche Saint-Germain l'Auxerrois das Morden ein. Es starben ca. 2.000 Hugenotten in den Häusern und Straßen der Hauptstadt, in den anschließenden Wochen rund 10.000 Hugenotten in anderen Städten Frankreichs. Soldaten des Herzogs Heinrich I. von Guise (1550-1588, genannt le balafré, der Narbige), Pariser Hilfstruppen und das unzufriedene Hauptstadtproletariat waren die Ausführenden. Im Hintergrund hatten außenpolitische Gründe zu dem Morden geführt.
Papst Gregor XIII. (1502-1585) veranstaltete zu Ehren dieser "Ketzervertilgung" Dankfeste und ließ in Rom sogar eine Siegesmedaille mit der Aufschrift prägen: Niedermetzelung der Hugenotten (Ugonottorum Strages 1572) und gab bei dem bedeutenden italienischen Renaissancemaler Giorgio Vasari (1511-1574) ein Historienbild in Auftrag, das noch heute als dreiteiliges Fresko in der Sala Regia des Vatikans in Rom zu sehen ist. Diese Bilder des Schreckens feiern den Triumph der vorgeblich gerechten Sache. Dem Morden in Paris folgten Massaker in vielen Städten des Landes, u. a. in Orléans, Meaux, Bourges, Albi, Rouen im September; in Toulouse, Gaillac und Bordeaux im Oktober. Deshalb hat der französische Historiker Jules Michelet mit Recht festgestellt: Die Bartholomäusnacht war nicht nur ein Tag, es war eine Saison.
Das Edikt von Fontainebleau das Ludwig XIV. am 18. Oktober 1685 im Königsschloss Fontainebleau südlich von Paris proklamierte u.a. das Verbot für Hugenotten Frankreich zu verlassen. Doch der Artikel des Edikts von Fontainebleau, das den französischen Protestanten so nachdrücklich die Auswanderung verbot, konnte ca. 170.000 Hugenotten (fast ein Prozent der französischen Bevölkerung damals) nicht daran hindern, ihre geliebte Heimat zu verlassen und in die umliegenden Länder zu fliehen.
Am 29. Oktober 1685 erließ Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst von Brandenburg (1620-1688) das Edikt von Potsdam. Mit diesem Edikt lud er die aus Frankreich flüchtenden Hugenotten in seine Territorien ein. Hintergrund für sein Handeln waren die großen ökonomischen Probleme in Brandenburg-Preußen, die nach den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) keineswegs überwunden waren. Dementsprechend zielte das Edikt von Potsdam nicht nur auf Bevölkerungszuwachs im Allgemeinen, sondern auf wirtschaftliche Innovationen wie bisher unbekannte Handwerkszweige oder Produktionsformen, welche die Neuankömmlinge ins Land bringen sollten. Damit steht Deutschland nach Großbritannien und den Niederlanden an dritter Stelle der Aufnahmeländer. Als loyale Untertanen stiegen Hugenotten in der Folge in der Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft sowie als Offiziere in bedeutende Positionen auf. In Berlin war um 1700 jeder dritte Einwohner ein Hugenotte!
Migrationsgeschichte II.Teil. Mehmed Ali Pascha, vormals Karl Detroit, war der Sohn des preußischen Hofmusikers Carl Friedrich Detroit und dessen wohl auch hugenottischen Ehefrau Henriette Jeanette Severin. Nach dem Besuch der Grundschule wechselte Ludwig Karl Friedrich Detroit auf das Domgymnasium Magdeburg. Mit 16 Jahren verließ Karl Detroit 1843 seine Heimat und heuerte auf einer mecklenburgischen Brigg als Schiffsjunge an. Im Hafen von Konstantinopel desertierte er mit einem Sprung ins Wasser vom Schiff. Zufällig wurde er durch Ali Effendi, den späteren Großwesir, gerettet, der auch bis zu seinem Tod 1871 sein Gönner blieb. Karl Detroit konvertierte zum Islam; ein Umstand, der beinahe zu einem Politikum geriet, da die preußische Gesandtschaft für den Deutschen Bund offiziell bei der osmanischen Regierung deswegen protestierte! 1846 wurde er an einer Kadettenschule angenommen und stieg die Karriereleiter bis zum Oberkommandierenden der osmanischen Truppen Bulgariens auf.
Bildbeschreibung: Anton von Werner stellt auf dem Gemälde die abschließende Sitzung des Berliner Kongresses am 13. Juli 1878 in der Reichskanzlei dar. Die Komposition ist Ausdruck der damaligen Mächtekonstellation: Im Zentrum halbrechts der deutsche Kanzler Otto von Bismarck. Er ist im Handschlag mit dem russischen Botschafter in London, Peter Graf Schuwalow, begriffen. Links neben Bismarck schaut Österreichs Außenminister Gyula Andrássy zu. Links außen sitzt Rußlands Staatskanzler Alexander Fürst Gortschakow. Seine Hand ruht auf dem Arm des britischen Premiers Benjamin Disraeli (Earl of Beaconsfield). Ganz rechts im Hintergrund steht zwischen den türkischen Delegierten Englands Außenminister Lord Salisbury. Und ganz rechts Mehmet Ali Pascha.
Die Hohe Pforte wählte Mehmed Ali Pascha wegen eben dieser Herkunft aus und wollte damit Verständigung mit Deutschland signalisieren, was aber in Berlin nicht gewürdigt und auch mit Hochmut gründlich missverstanden wurde. Otto von Bismarck sprach von einer "Taktlosigkeit", und der gesamte deutsche Generalstab lehnte die Anwesenheit Mehmed Alis ab. Für das "christliche Abendland" war der zum Islam übergetretene "Deutsche" wohl sowas wie ein Verräter. Aber was war diese "Taktlosigkeit" im Vergleich zu den Folgen von Bismarcks Berliner Konferenz.
Immerhin war das Ergebnis einer der Auslöser für den ersten Weltkrieg. Österreich-Ungarn wurde das Recht zugesprochen, Bosnien und die Herzegowina zu verwalten, was man allerdings als das "Recht" verstand Bosnien und die Herzegowina 1878 einfach zu okkupieren und 1908 förmlich zu annektieren. Damit war Krieg vorprogrammiert und der 1914 in Sarajewo einem Anschlag zum Opfer gefallene österreichische Thronfolger war keineswegs der Repräsentant einer friedlichen und freiwilligen Völkergemeinschaft, die sein Onkel Franz-Josef dann tatsächlich in den grausam mörderischen Weltkrieg treiben wird. Das Wort vom "Völkerkerker" war also bei weitem nicht nur eine Prägung des Nationalismus, sondern hatte durchaus seine Berechtigung, wiewohl man heute Österreichs Geschichte, die ach so gute "Donaumonarchie" gerne als vorgemeinschaftliche europäische Völkergemeinschaft schönschreibt.
Nâzým Hikmet liest sein Gedicht "Kerem Gibi"
Migrationsgeschichte III.Teil. Nâzým Hikmet gilt als der bekannteste türkische Lyriker innerhalb und außerhalb der Türkei. Seine Herkunft zeigt ein gänzlich anderes Bild vom Osmanischen Reich als wir es gewohnt sind.
Mehmet Ali Pascha oder "Karl Detrois" hatte mit seiner Ehefrau vier Töchter: Hayriye Hanim, Leyla Hanim, Adviye Hanim ve Zekiye Hanim. Zu den Nachkommen dieser Töchter gehört eben Nâzým. Er ist also Nâzým Hikmets Urgroßvater mütterlicherseits.
Nâzýms Großvater mütterlicherseits wiederum, ist Mustafa Celaleddin Pascha und stammt aus dem christlichen Polen: Konstantin Borjenski, ein Adliger, der auf der Seite der Ungarns 1848/49 für die Freiheit Ungarns kämpfte. Die Polnischen Legionen in Ungarn wurden von General Józef Wysocki und General Józef Bem aus polnischen Freiwilligen formiert, die nach Ungarn kamen, um „Für unsere und Eure Freiheit“ an der ungarischen Seite während der Ungarischen Revolution 1848/1849 gegen die Österreicher zu kämpfen. Die polnischen Legionäre kämpften so tapfer, dass ihre roten Mützen als Tapferkeitsauszeichnung der ungarischen Truppen eingeführt wurden. Nach der Niederlage von Temesvár und der ungarischen Kapitulation am 13. August 1849 flohen die Reste der Legionen in die Türkei. Zusammen mit Bem konvertierten 72 Offiziere und Generale sowie 6.000 ungarische und polnische Soldaten.
Nach der Niederlage im Aufstand der Polen gegen die autoritären und demokratieunwilligen Monarchen Österreichs und Rußlands (1848) floh er erst nach Paris, von dort nach Istanbul, konvertierte ebenfalls zum Islam und stieg bis zum Pascha auf. Bekannt wurde er aber nicht allein als Soldat, sondern auch als Urheber der Türkologie. In seinem Buch "Les Turcs Anciens et Modernes" versuchte er, bei den Türken, die er als eigentliche Teilgründer der Zivilisation sah, ihr Nationalbewußtsein zu erwecken, ja wurde ein Wegbereiter des türkischen Nationalismus. Mustafa Celaleddin Pascha ist 1876 im Krieg gefallen.
Migrationsgeschichte IV.Teil. Mustafa Celaleddin Pascha heiratete eine Tochter des Generals der osmanischen Armee im Krimkrieg, Omer Pascha (1806–1871), der, als Serbe unter dem Namen Michail Latas, davor in der habsburgischen Armee gedient hatte. Omar Pascha wurde in Plaski, im zu Österreich gehörenden ungarischen Militärgrenzland (Kroatien), wo sein Vater Verwaltungsbeamter des Oguliner Bezirks war, geboren. Er trat als Kadett in das Oguliner Grenzregiment der österreichischen Armee ein, desertierte 1828, weil sein Vater entlassen wurde, trat in Bosnien in die Dienste des türkischen Statthalters Hussein Pascha und wurde Erzieher von dessen Kindern. 1868 war er vorübergehend als Kriegsminister tätig und starb am 18. April 1871.
Migrationsgeschichte V.Teil. Der am 20.Jänner 1902 in Saloniki (Griechenland, damals zum Osmanischen Reich gehörend) geborene Sohn eines Paschas war zunächst Anhänger des türkischen Nationalismus, wandte sich aber rasch davon ab, als er die blutigen Auswirkungen erkannte und wurde zur Symbolfigur der demokratischen Bewegungen. Er war gezwungen, einen Großteil seines Lebens im Gefängnis und im Exil zu verbringen. Bis 1965 sind seine Werke in der Türkei verboten und werden ausschließlich im Ausland gedruckt und unter der Hand verbreitet. Erst in den letzten Jahren gelang in der Türkei eine Annäherung an den Jahrzehnte als Staatsfeind geschmähten Autor, der nie in die aktive Politik eingegriffen und sich selbst immer "nur" als Dichter angesehen hatte.
Seine Eltern sind gebildet, die Familie zählt zur führenden Schicht der osmanischen Gesellschaft. Seine Vater, Hikmet Nâzim Bey, Sohn von Mehmet Nâzim Pascha, ist hoher Beamter im Außenministerium in Saloniki. Seine Mutter Djelile ist künstlerisch sehr begabt und aktiv, sie malt, spielt Klavier, spricht französisch und fühlt sich stark der französischen Kultur verhaftet.
Seine Mittelschul-Ausbildung absolvierte er auf der Militärschule in Heybeliada (1918). Schon zu diesem Schulbesuch gab es ein lyrisches Produkt als Beweggrund. Im Alter von 12 Jahren verfasste er ein Gedicht mit dem Titel "Aus dem Munde eines Militärschulabsolventen", das den Rektor dieser Schule veranlasste, Nâzým Hikmet zu dieser Schule zu motivieren. Nach Abschluss der Militärschule versah er auf dem Kreuzer "Hamidiye" als Deckoffizier seinen Militärdienst. 1920 kommt die Türkei unter alliierte Kontrolle und Istanbul ist besetzt. Nâzim Hikmet schreibt patriotische Widerstands-Gedichte und verlässt mit seinem Freund Vâlâ Nureddin Istanbul, um sich dem nationalen Befreiungskrieg unter Mustafa Kemal Atatürk anzuschließen. Mit dem Gedicht "Eine Minute" gewann er 1920 den von der Zeitung "Alemdar" ausgeschriebenen Dichterwettbewerb. Doch bald erkennt er, dass sich in dieser Türkei nichts zum Guten verändert und er ist mit Freunden fasziniert von dem, was sich in der blutjungen revolutionären Sowjetunion zu bewegen scheint. Von 1921 bis 1924 studiert er in Moskau.
Seine Biografie hat nun jenen Punkt erreicht, an dem die Daten entweder neue Werke oder neue Verfolgung markieren. 1925 zurückgekehrt in die Türkei, schreibt er für verschiedene Zeitungen und veröffentlicht Gedichte. Hikmet wurde nun durch die Verwendung von Umgangssprache und dem Einsatz von reimlosen Zeilen im Blankvers zum radikalen Erneuerer der seit Jahrhunderten metrischer Reimdichtung verpflichteten türkischen Dichtkunst. Während einer erneuten Reise nach Moskau erfährt er, dass er wegen eines Gedichtes in Abwesenheit zu 15 Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde. Er kehrt deshalb erst nach einer 1928 erlassenen Amnestie in die Türkei zurück, wird dort aber sogleich zu sieben Monate Haft verurteilt.
1929 erscheint der Gedichtband "835 Zeilen". Nâzým Hikmet bricht darin völlig mit der Tradition der osmanischen Poesie. Reimlos, frei im Rhythmus, mit volkstümlich - realistischem Vokabular und mit eigenen Wortschöpfungen. Seine Themen entnimmt er dem Alltag, der bisher in Gedichten in der Türkei keinen Platz hatte. 1930 bringt Columbia Records eine Platte mit Gedichten des kämpferischen Poeten heraus. Alle Menschen hören die Stimme Nâzým Hikmets. Die Platte wird in Caféhäusern, Restaurants und anderen öffentlichen Orten gespielt. Nach zwanzig Tagen ist sie ausverkauft.
Doch: Der Dichter wird beobachtet, verhaftet, verhört, kommt wieder frei. Columbia Records gibt unter staatlichem Druck den Plan auf, die Platte erneut zu produzieren. 1934-35 ist er erneut in Haft. Zwischen 1929 und 1936 veröffentlichte er neun Bücher – fünf Gedichtsammlungen und vier lange Gedichte – mit denen er die türkische Dichtkunst revolutionierte, sich über ottomanische Konventionen lustig machte und das freie Versmaß und die Alltagssprache einführte. Dazu schrieb er auch noch mehrere Theaterstücke und Romane und arbeitete als Buchbinder, Korrekturleser, Journalist, Übersetzer und Drehbuchschreiber, um seine zweite Frau, ihre beiden Kinder und seine verwitwete Mutter zu ernähren.
1937 veröffentlicht er "Epos über Bedrettin, Sohn des Richters von Simavne" eine zwischen Lyrik und Epos stehende Gattung. Bei Militärschülern werden bei einer Razzia Bücher von Nâzým Hikmet gefunden - das sah man als Meuterei an. Hikmet wird 1938 deshalb zu 35 Jahren Gefängnis verurteilt. In der Haft arbeitet Hikmet an seinem Hauptwerk "Ansichten der Menschen in meinem Heimatland".
Aufgrund von Pressekampagnen, unter dem Druck von Intellektuellen aus der ganzen Welt wie Picasso, Aragon, Sartre, Neruda, Brecht u.a., nach Solidaritätsaktionen in aller Welt und nach Einsatz des letzten verzweifelten Mittels, das ihm selbst im Kerker geblieben war- dem Hungerstreik -, wurde er 1950 amnestiert. Kurz danach wird er mit 49 Jahren und durch die Haft gesundheitlich geschädigt zum Militär einberufen - obwohl er seinen Militärdienst bereits in der Jugend absolviert hatte und erhält gleichzeitig mit der Einberufung Morddrohungen. Hikmet flieht mit einem Ruderboot übers Schwarze Meer und wird von einem rumänischen Frachter aufgenommen. Am 3. Juni 1963 stirbt Nâzim Hikmet im Moskauer Exil.
Von 1950 bis 1963 lebte Hikmet vorwiegend in Moskau. Die Türkei bürgert ihn 1951 aus, eine Rückkehr ist von nun an unmöglich. Er lebt in der Sowjetunion und in anderen sozialistischen Ländern, in den Städten Sofia, Warschau und natürlich in Moskau. Der berühmte Dichter im Exil erhält die polnische Staatsbürgerschaft, da er durch seinen Großvater auf polnische Vorfahren zurückblicken kann. In seinem Paß steht nun: Nâzim Hikmet Borzenski. Vom Exil aus setzt er seinen politischen Kampf fort. Es ist die Zeit des Kalten Krieges, in Korea wird gekämpft. Bei einer Veranstaltung gegen den Korea-Krieg 1952 in Berlin greift Nazim Hikmet die türkische Regierung wegen der Entsendung türkischer Soldaten nach Korea an und verurteilt den amerikanischen Imperialismus. Er wird in den Weltfriedensrat gewählt, spricht auf internationalen Friedenskongressen und tritt in seinen Gedichte mit mahnenden und eindringlichen Worten für den Frieden und gegen Atomwaffen ein. Seine Verse werden vertont und von Paul Robeson und Pete Seeger gesungen. Als sehr aktives Mitglied des Weltfriedensrates bereist er in diesen Jahren viele Länder aller Erdteile. Die USA allerdings verweigern ihm die Einreise. Viele Reisegedichte entstehen, er beschreibt, was er sieht und erlebt, immer wieder aber vermischt mit großem Heimweh nach "seiner Türkei."
Seine mutige und offene Kritik an Stalin vor dem sowjetischen Schriftstellerkongress erregte Aufsehen und Bewunderung, sein satirisch-kritisches Theaterstück gegen den stalinistischen Personenkult "Hat es Iwan Iwanowitsch gegeben oder nicht?" kommt im Jahr 1956 in Moskau zur Aufführung und wird sofort wieder vom Spielplan abgesetzt. Der KGB behielt Nâzim Hikmet bis zuletzt im Auge.
Nâzým Hikmet schrieb Gedichte, Erzählungen, Theaterstücke, Romane, Märchen und Kritiken. Da er die Meinung vertrat, dass die neue Epoche eine neue Erzählform brauche, wandte er stets von der bis dahin in der türkischen Dichtung gültigen Diwan-Lyrik (= höfische Lyrik) ab. Er proklamierte die freie realistische Zeile anstelle des metrischen Verses und des höfischen Aruz, deren Ursprünge in der persischen und arabischen Dichtung des Mittelalters lagen. Die Themen seiner Werke umfassen alle Ebenen des menschlichen Lebens, sowohl private als auch gesellschaftliche.
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- BILD Ansehen: Berliner Kongress, gemalt von Anton von Werner
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- [Google Search] Eine multiple Integrationsgeschichte Europas: Nâzým Hikmet der europäischste aller Dichter?
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- 10.12.13 [Letzte Aktualisierung, online seit 8.1.11]
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1 Kommentar:
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