Samstag, 2. Dezember 2017

[ #Arbeitswelt ] Marienthal-Studie: Verelendung bildet kein politisches Bewusstsein!

Bildquelle: Wikimedia Commons/KarlGruber
"Marienthal" ist der Name einer Fabrik und Arbeiterkolonie in den niederösterreichischen Gemeinden Gramatneusiedl und Reisenberg. Wer würde den Namen kennen - ohne die berühmte Studie "Die Arbeitslosen von Marienthal" und deren Autoren Paul Felix Lazarsfeld und Maria Jahoda sowie ihren neuartigen Forschungskonzepten?

Verelendung bildet keinpolitisches Bewusstsein ausDas ist die knappe und nüchterne Bilanz dieser Studie. Das Thema Arbeitslosigkeit, dessen Aktualität bis heute ungebrochen ist, mag ein wesentlicher Grund für den Erfolg dieser Studie sein, eine Akzentuierung, auf die besonders Marie Jahoda Wert legte. Über die bloße Zählung der von Arbeitslosigkeit Betroffenen hinausgehend wurde versucht, die psychischen und sozialen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf Einzelne wie auf die gesamte Gemeinschaft Marienthal möglichst umfassend und facettenreich zu erheben, zu analysieren und darzustellen. Unter den Schlussfolgerungen der Marienthal-Studie besaß jene der "müden Gemeinschaft" besondere politische Brisanz:  Die bei einem erheblichen Teil der Arbeitslosen festgestellte Resignation, Aktivitätsunfähigkeit und Überforderung durch erzwungenes Nichtstun sowie die im Zuge der Untersuchung festgestellte Entpolitisierung großer Teile der Arbeitslosen liefen der im sozialistischen Lager damals populären Idee des Arbeitslosen als eines revolutionären Subjekts zuwider.


Marienthal. Marienthal ist ein verschlafener Ort, wenige Kilometer östlich von Wien. Zwei Drittel der Einwohner arbeiten bei einer Fabrik am Ort. Als die schließt, werden über nacht alle Arbeiter dieser Fabrik arbeitslos, es bleiben außerhalb der Fabrik 20 Arbeitsplätze in dem Ort erhalten. Führt diese aussichtslose Situation nicht zu politischen Umstürzen, zur Revolution? Dies ist die Frage, der das Forscherteam nachgegangen ist.

Die Anregung zu einer Studie über Arbeitslosigkeit gab nach Aussagen mehrerer Zeitzeugen der Führer der österreichischen Sozialdemokratie Otto Bauer (1881–1938). Er soll das Projektteam außerdem auf den Ort der Forschung, auf Marienthal hingewiesen haben. Auch die Lage der Fabrik und Arbeiterkolonie Marienthal vor den Toren der österreichischen Hauptstadt war sicherlich mitentscheidend, war sie doch damals mit dem Zug von Wien aus in nur fünfunddreißig Minuten zu erreichen. Eine besondere Bedeutung bei der Ortswahl wie bei der Konzeption des Projekts kommt einer 1930 erschienenen Sozialreportage über Marienthal zu, in welcher bereits einige Ideen der späteren Marienthal-Studie angerissen sind. Die Artikelserie stammt von Ludwig Wagner (1900–1963), Freund und politischer Mitkämpfer von Paul Felix Lazarsfeld (1901–1976) und Ehemann von Gertrude Wagner (1907–1992), welche von Anbeginn ganztägig Beschäftigte der »Österreichischen Wirtschaftspsychologischen  Forschungsstelle« war.

Feldforschung. Die Forscher bezeichnen ihre Studie als "soziographisch". Darunter verstehen sie einen Methodenmix unterschiedlichster empirischer Methoden. Interessant ist die Verwendung der "teilnehmenden Beobachtung". Der Forscher geht quasi "undercover" in das zu erforschende Feld.  Die Feldforschung begann in der ersten Novemberwoche 1931 und wurde zum Großteil von Lotte Schenk-Danzinger (1905–1992) – damals noch »Danziger« – geleistet, die von Anfang Dezember 1931 bis Mitte Januar 1932 sechs Wochen vor Ort lebte, und deren Anteil an der Marienthal-Studie bis heute zu gering eingeschätzt wird. Offiziell fungierte sie in Marienthal als Leiterin einer vom Arzt Paul Stein organisierten Winterhilfe-Aktion, welche in der Verteilung gebrauchter Kleidung bestand. Einzelne Tätigkeiten des Projektteams wurden in Marienthal bis Mitte Mai 1932 fortgeführt. Die Forschenden standen einerseits unter ebenso strenger wie misstrauischer Beobachtung durch die örtliche Gendarmerie, wurden jedoch andererseits durch den sozialdemokratischen Bürgermeister von Gramatneusiedl Josef Bilkofsky (1871–1940) umfassend unterstützt. Während der Hauptarbeitszeit des Projekts trafen sich die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ein- bis zweimal wöchentlich, um Erfahrungen auszutauschen, Beobachtungen zu diskutieren und die nächsten Projektschritte zu planen.

Die Ergebnisse. 
Im Sommer 1932 zog sich Marie Jahoda – damals noch verheiratete Lazarsfeld – mit dem Erhebungs- und Auswertungsmaterial in die österreichischen Alpen zurück, wo sie innerhalb weniger Wochen den Haupttext der Studie niederschrieb. Die 1933 erstmals veröffentlichte Marienthal-Studie wurde erst durch ihre Neuausgabe 1960 einer größeren Leserschaft zugänglich. Seither sind auch mehrere Ausgaben des deutschsprachigen Originals erschienen. Ihren internationalen Durchbruch schaffte die Studie allerdings erst mit der 1971 veröffentlichten englischsprachigen Ausgabe, der zahlreiche weitere Übersetzungen folgten. Innerhalb von kaum zwei Jahrzehnten wurde die Marienthal-Studie zu einem weltweiten Klassiker der empirischen Sozialforschung.

 [citizen|BürgerIn|citoyen]

Keine Kommentare: